Krystian Woznicki on Wed, 2 Apr 2003 10:36:36 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Berliner Gazette, 02.04. [Staat]


Wieso, weshalb, warum!
oder: >>Was haben das Fernsehmuseum, die Neue Republik Schwarzenberg und
TV-Sendungen aus der DDR gemeinsam?<<

[ ] Protokoll: Stefan Eckel [1], Ko-Gruender [2]

Im April reiht sich das von Doug Gerbode und Reproducts geleitete
Fernsehmuseum als Temporaere Botschaft in die Kette der
Solidaritaetsaktionen fuer das Haus Schwarzenberg ein. Als uns das Konzept
fuer die unterstuetzenden Massnahmen zum Erhalt dieses Kommunikationsraums
am Hackeschen Markt das erste Mal dargelegt wurde, haben wir sofort einen
Beitrag vom Fernsehmuseum zugesichert. Denn Gruende, eine Temporaere
Botschaft der Neuen Republik Schwarzenberg zu eroeffnen, gibt es zur Genuege.

Da waeren einmal abstrakte Aehnlichkeiten. Zum Beispiel steht das
Reproducts-Archiv, aus dem wir das Fernsehmuseum bestuecken, laut der
Legende in Toetensen bei Hamburg. Dort haben wir kurzerhand einen ganzen
Gelaendekomplex zu unserem Reproducts-Labor erklaert. Dieser Miniaturstaat
dient als ueberschaubare Metapher fuer Besucher im Web, um ihnen ein Image
fuer unsere Arbeit zu bieten - unsere Idee sollte eine visuelle Heimat
bekommen. Ganz aehnlich agieren die Schwarzenberger, wenn sie ihr Haus zur
Republik erklaeren. [3] Nur mit dem Unterschied, dass hier das reale Haus
eine neue Gestalt in Form der Idee eines definierten sozialen Gebildes
gewinnt - eine Ansammlung von Geschaefts- und Arbeitsraeumen wird zur Republik.

So abstrakte und zudem dialektische Verrenkungen sind vielleicht Ausloeser
fuer zustimmendes Kopfnicken, aber kaum fuer Aktivitaet. Zumindest nicht
bei uns. Die ebenso spontane wie sichere Sympathie fuer einen Ort, den ich
als Nicht-Berliner hoechstens als Konsument des Kino Central oder
dem Eschschloraque kenne, muss schon auf etwas tiefgruendigerem Fun fussen.
Das klingt trotzdem erstmal oberflaechlich und koennte zu dem Verdacht
fuehren, schon die schlichte Sehnsucht nach aesthetischer Aehnlichkeit,
wuerde als Aktionsmotor reichen: Das >temporaere< Museum jetzt auch
als >temporaere< Botschaft? Nun ja. Wie schon gesagt: Bei weitem zu
oberflaechlich.

Sicher, das Fernsehmuseum existiert in Berlin >nur< ein einziges Mal im Monat
(jeden 1. Freitag im Monat in der Z-Bar [4]), um dort uebersehene oder
vergessene Fernsehjuwelen unter thematischen Gesichtspunkten zu
praesentieren. Es ist also nur ein fluechtiger, >temporaerer< Stern am
Unterhaltungshimmel der Hauptstadt. Fuer die zwei, drei Stunden allerdings
recht bunt. Damit meine ich in erster Linie die Atmosphaere, die dabei
entsteht. Kollektives Fernsehen ist manchmal wie ein Psycho-Seminar. Das
kann ziemlich aufregend werden im Kopf und hinterlaesst ein gutes Gefuehl.
Sonst liesse sich dieser oekonomische Unsinn von Zeit- und Materialaufwand
ohne jede Foerderung oder Eintrittsgeldforderung auch nicht lange durchhalten.

Da ist dann auch die erste ernste Ebene von spontaner Solidaritaet benannt,
denn hier scheint mir eine Verwandtschaft zum Haus Schwarzenberg
vorzuliegen: Orte, die ihre Tueren abseits der jeweils aktuell
ausgetretenen Kulturflure oder kultigen Klubbingbeduerfnisse oeffnen,
ziehen ein besonderes Publikum an. Bei aller Homogenitaet der Entscheidung,
hier seine Zeit zu verbringen, ist die Dichte der heterogenen Eigenheiten
der Besucher hoeher als anderswo. Das ist mindestens abwechslungsreich und
an guten Abenden die Basis fuer spannende Kommunikation. Es ist eine
Energie, die motiviert, ein solches Territorium weiter zu behaupten. Aber
reicht diese Energie allein aus, um so ein Projekt ueber Jahre hinweg zu
verfolgen? Sicher nicht. Am grundsaetzlichen Glauben, das Richtige und Gute
zu tun, naehrt sich das Feuer der Leidenschaft. Es bringt Konzepte fuer
Raeume zum Leuchten.

Obwohl es sich so anhoert, muss man nun weder in den philosophischen
Zauberhut ethischer Praeambeln noch in die Esomuetze des Gutmenschentums
greifen. Es geht schlicht um ein paar Erfahrungswerte aus ueber zehn Jahren
eigener Aktivitaeten im oeffentlichen Raum. Territorien, Freiraeume, wollen
persoenlich abgesteckt werden. Sie muessen ueber eine wie auch immer
abstrakte, so doch definierte Gestalt verfuegen, sonst erkennt man sie
selbst nicht wieder ­ und andere schon gar nicht. Man muss diesen Raum
pflegen und manchmal auch behaupten. Das kann man allein tun oder mit
anderen zusammen. Man kann es aus eigener Kraft tun oder seine Kraft darauf
verwenden, andere zu ueberzeugen einen zu unterstuetzen oder zu foerdern.
Entscheidend ist das Ergebnis: Ploetzlich gibt es in diesem Flecken des
Immergleichen etwas Anderes: eine Reibungsflaeche, einen Stolperstein, ein
Irrlicht - eine Moeglichkeit, etwas anderes zu sehen, zu denken, zu
empfinden. Eine Moeglichkeit, sein Dasein zu historisieren und vielleicht
zu aendern.

Ob das nun wirklich angenommen wird oder nur als Komplementaerreiz
konsumiert wird, ist voellig egal. Es geht um die Schaffung und den Erhalt
von Kommunikationsspielraeumen, die den Individuen eine intelligente und
vielfaeltige Wahl ermoeglichen. Innerhalb dieser Zonen muss sich sowieso
wieder jeder selbst seinen Spielraum abstecken. Das Spiel geht staendig von
vorne los, bei jedem Einzelnen. Genau bei der Bereitstellung dieser
Moeglichkeiten muss man die Leute vom Haus Schwarzenberg unterstuetzen.

Und der Kreis, zumindest dieses Textes, schliesst sich damit beim
Sonderprogramm des Fernsehmuseums, das am 4. April (siehe
Veranstaltungshinweise, A.d.R.) >Fernsehen aus der Zone< zeigt -
flimmernde, verrauschte Originalaufnahmen, in den spaeten 80ern von einem
Staat gesendet, dessen historische Realitaet heute immer fiktiver zu werden
scheint, einem Staat, der seinen jungen Buergern auf unterhaltsame,
spielerische Weise zeigen wollte, was man alles mit seiner Zeit Sinnvolles
anstellen kann.

1. mailto:archiv@reproducts.de
2. http://www.reproducts.de
3. http://www.haus-schwarzenberg.org
4. http://www.z-bar.de
5. http://www.psychohistory.com

[ ] SPEZIAL: Im Rahmen von >Aktion Territorium jetzt!<
[http://www.haus-schwarzenberg.org] inszenieren drei Botschaften der Neuen
Republik Schwarzenberg in Zusammenarbeit mit der Berliner Gazette jeweils
einen Empfang:

Do - 03.04

K i n o : Die Idee der >Do-It-Yourself-Embassy< wird von uns diese Woche am
Beispiel des Filmklubs 58 demonstriert. Gestern noch ein intellektuelles
Kino der besonderen Art (>fuer aufgeschlossene Menschen<), heute,
anlaesslich der folgenschweren Zwangsversteigerung des Hauses Schwarzenberg
am 24.04.2003, eine Temporaere Botschaft der Neuen Republik Schwarzenberg.
Gestern ein von renommierten Kuratoren zusammengestelltes Programm, heute
eine Playlist, die von Einwohnern der Neuen Republik Schwarzenberg
basisdemokratisch >gewaehlt< wird. Zum Thema >Zonen< koennen sich
jedenfalls alle unter mailto:info@dig-berlin.de einen Film wuenschen, der
diese Woche nach sachkundiger Einfuehrung gezeigt wird. Ort: Filmklub 58,
Saarbrueckerstr.22-24, 2.Hof, Dachboden, 20 Uhr.

Fr - 04.04.

T V : >Fernsehen aus der DDR< - das Fernsehen einer Zone, eines Raumes
innerhalb eines Raumes. Die strukturelle Analogie zur Situation des Hauses
Schwarzenberg im Herzen von New Berlin ist augenfaellig. Das Fernsehmuseum,
das sich im April als Temporaere Botschaft der Neuen Republik Schwarzenberg
kleidet, wird sich jedoch weder in Nostalgie noch in Pessimismus verlieren.
Das Sonderprogramm [http://www.reproducts.de/aktuell/fm_berlin/index.html]
huldigt der Zone an sich, die qua ihrer Existenz ein Innen vom Aussen
scheidet und auf diese Weise zwei Blickwinkel konstituiert. Das ist
erheblich mehr, als das Fernsehen heute mit seinen gut 40 Kanaelen zu
bieten hat. Mit einer Reihe von Sendungen aus den Bereichen Ratgeber,
Kinderprogramm, Schulfernsehen und Nachrichten wird der Blick auf die Welt
geschaerft. Ort: Fernsehmuseum in der Z-Bar, Bergstrasse 2, 22 Uhr.

So - 06.04.

S a l o n : Die urbanen Freiraeume Berlins, wie u.a. das Haus des Lehrers,
das Haus Schwarzenberg, die Subkultur-Szene in Mitte und Prenzlauerberg,
werden seit Jahren aus dem Zentrum Berlins verdraengt. Bei dem von
filesharing [http://www.filesharing.de] geplanten Botschaftsempfang zur
Unterstuetzung des Hauses Schwarzenberg soll ein Erfahrungsaustausch
ermoeglicht werden, ueber Formen kreativen kuenstlerischen Widerstands
gegen die einseitige wirtschaftliche Monokultur im urbanen Raum. Die Zahl
der Teilnehmer ist auf 20 Personen begrenzt, anvisiert ist
ein thematischer Salon-Abend mit Verkoestigung, der den Gaesten die
Moeglichkeit zu einer intimen Gespraechsrunde bietet. Willkommen sind kurze
Praesentationen von kuenstlerischen Arbeiten zum Thema (ca. 5 min). Diese
koennen aufgehaengt, projiziert oder vorgetragen werden. Anmeldungen an Ben
Pohl (mailto:no_undo@filesharing.de). Ort: filesharing, Raumerstr.40, 18 Uhr.

Bis naechste Woche,

Krystian Woznicki
mailto:kw@berlinergazette.de

PS: Wenn zwei Parteien sich gleichermassen im Recht fuehlen und endlos um
eine Loesung streiten - dann wird eine Muenze geworfen, so auch in Stefan
Heyms Roman >Schwarzenberg< (1984): Sollen die Russen oder die Amerikaner
einmarschieren in den erzgebirgischen Landkreis Schwarzenberg? Historisch
verbuergt ist, dass diese zweitausend Quadratkilometer Deutschland vom 9.
Mai bis zum 24. Juni 1945 unbesetzt waren, weil der Verlauf der
Demarkationslinie unklar blieb. Fuer kurze Zeit blieb alles offen, fuer ein
von beiden Seiten zwangsweise geduldetes Experiment. Fuer fast sieben
Wochen durften die Menschen von Schwarzenberg ihren Traum von einer freien,
gerecht verwalteten Republik an der Realitaet erproben - und zugleich
feststellen, wie muehselig es sein kann, sich selbst zu organisieren. Eine
umfangreiche Website [1] dokumentiert diese Phase und vor allem auch das,
was dort seitdem entstand.

1. http://www.freie-republik-schwarzenberg.de

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